Impuls zum 20. Juni 2021
Von Klaus Hagedorn, Oldenburg, pax christi Diözesanverband Münster
„Lehre uns, unsere Tage zu zählen, damit wir ein weises Herz erlangen.“
Psalm 90,12
Erinnerung an Martin Buber
Ein Wort zuvor
Der 20. Juni ist der „Weltflüchtlingstag“, seitdem am 4. Dezember 2000 die UN-Generalversammlung anlässlich des bevorstehenden 50. Jahrestages der Gründung des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) ihn dazu erklärt hat. Er fällt in diesem Jahr auf einen Sonntag.
Die Bilder der vielen Flüchtlingslager, insbes. aus dem griechischen Lager Moria auf der ostägäischen Insel Lesbos, tauchen vor meinem inneren Auge auf. Ebenso Bilder von Booten aus dem Mittelmeer, eher „Nussschalen“ voller Menschen. Da sind Leute, Flüchtlinge, in großer Not, die Hilfe brauchen, auf deren Not die EU und die europäischen Staaten völlig unzureichend reagieren. Mir zeigt sich: wir haben offenbar einen großen Teil unserer Christlichkeit in Europa verloren. Sodann die Konflikte in Israel-Palästina: die jüngsten Bilder von den Raketenangriffen aus Israel und Gaza haben mir keine Ruhe gelassen – auch weil es aus diesem und so vielen anderen Konflikten anscheinend keinen Ausweg gibt.
Bei der Frage, warum die Hoffnung nicht aufgeben in aller Suche nach Frieden, habe ich Martin Buber (1878-1965) erinnert, den großen jüdischen Religionsphilosophen und Dialogförderer zwischen Jüdinnen und Juden, Christ*innen und Muslimas und Muslimen. Sein Todestag ist der 13. Juni 1965. Er, selbst ein Flüchtling, hat für mich Wegweisendes aufgezeigt. Er war zeitlebens auf der Suche nach einem „weisen Herz“ bzw. nach der „Weisheit des Herzens“ (vgl. Psalm 90,12). Er kann motivieren, nicht der Gefahr zu erliegen, Menschen anderer Kulturen oder Religionen auch angesichts von Terrorakten mit Misstrauen und Unbarmherzigkeit zu begegnen. Er kann inspirieren, auf keinen Fall zuzulassen, dass solches die Gesellschaften in Europa spaltet.
Gebet für Suchende und Fragende
Lebendiger, wer immer du bist
und mit welchen Namen du auch immer benannt wirst:
Suchende sind wir nach einem Sinn;
lass uns finden hinter den vielen Worten: ein Wort, das uns trägt.
Tastende sind wir nach einem Grund;
lass uns greifen hinter den vielen Sätzen: dein Geheimnis.
Hoffende sind wir auf ein Zeichen;
lass uns lesen hinter den Zeilen: dein Antlitz
Wartende sind wir auf ein Echo;
lass uns hören zwischen den Pausen: dein Atmen.
Hole uns heraus aus dem Land
von Fluch und Schicksal.
Werde in uns Wachsamkeit und Geduld,
Gedächtnis, Vernunft und Treue.
Führe uns hinaus ins Weite
und mach unsere Finsternis hell.
Darum bitten wir mit allen Fasern unseres Lebens im Namen Jesu. AMEN
Eine Erinnerung aus dem Ersten Testament: Psalm 90, 1-12
Ein Gebet. Von Mose, dem Mann Gottes. Mein Herrscher über uns alle, ein sicherer Ort bist du für uns von Generation zu Generation.
Bevor die Berge geboren wurden und du unter Wehen Erde und Erdkreis geboren hast – durch alle Zeiten bist du, Gott.
Zurückkehren lässt du die Menschen zum Staub und sprichst: Kehrt zurück, Menschenkinder.
Tausend Jahre sind in deinen Augen wie der gestrige Tag, wenn er vorübergezogen ist – einer Nachtwache gleich.
Du schwemmst sie weg, wie ein Schlaf sind sie, am Morgen wie Gras, das aufsprosst.
Am Morgen blüht es und wächst empor, am Abend welkt es und verdorrt.
Ja, wir schwinden durch dein Wutschnauben. Durch deine Zornesglut werden wir schreckensstarr.
Du stellst unsere Ungerechtigkeiten dir gegenüber hin, was wir verbergen, ins Licht deines Antlitzes.
Alle unsere Tage schwinden durch deinen Grimm. Wir vollenden unsere Jahre wie ein Murmeln.
Unser Leben dauert siebzig Jahre, manchmal, wenn wir stark sind, achtzig Jahre. Ihr Stolz – Leid und Unheil! Schnell geht es vorbei und wir fliegen weg.
Wer erkennt die Macht deines Wutschnaubens? Wie die Furcht vor dir, so dein Grimm.
Lehre uns, unsere Tage zu zählen, damit wir ein weises Herz erlangen.
Aus: Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh/München 2007, 1131f
Martin Buber und seine Suche nach einem „weisen Herz“
Martin Buber ist immer ein Mann des Friedens geblieben – aller niederschmetternden Erfahrungen von Terror und Verfolgung zum Trotz. Er wurde 1878 in Wien geboren, wuchs in Lemberg im heutigen Polen bei seinen Großeltern auf, studierte und lehrte in Deutschland und der Schweiz, erhielt von den Nazis ein Berufsverbot, wurde 1938 aus Heppenheim mitsamt seiner Familie vertrieben und lebte bis 1965 in seiner neuen Heimat Jerusalem – allem zum Trotz bleibend verbunden mit Deutschland; die deutsche Sprache ist seine Muttersprache bis zum Schluss geblieben.
Bubers Lebensimpuls war durchgehend, im Dialog zu stehen, damit Fenster neu aufgehen. Er sagte von sich: „Ich habe keine Lehre, ich zeige nur etwas. Ich zeige Wirklichkeit, ich zeige etwas an der Wirklichkeit, was nicht oder zu wenig gesehen worden ist. Ich nehme ihn, der mir zuhört, an die Hand und führe ihn zum Fenster. Ich stoße das Fenster auf und zeige hinaus. Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch.“
So portraitiert sich der große jüdische Lehrer und Religionsphilosoph selbst. Er war ein Mann des wirklichen Dialogs. „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“, sagte er. Zum Dialog gehören mindestens zwei, und das in tiefster Ehrfurcht voreinander und in größter Aufmerksamkeit füreinander. Für beide soll ein Fenster neu aufgehen – ein neuer Blick auf die Wirklichkeit entstehen, eine genauere Wahrnehmung möglich werden: persönlich, sozial, politisch, religiös. Mit Vorliebe sprach Buber von Begegnung. Denn wir Menschen haben einen bestimmten Richtungssinn: „von Angesicht zu Angesicht“, face to face – präsentisch! Das, was zwischen uns ist, macht das Wunder der Begegnung möglich; es ist das Gespräch, das nie aufgegeben werden darf. Martin Buber lernt deshalb fünf Sprachen: deutsch, hebräisch, französisch, jiddisch und polnisch.
Bekannt wird er, als er mit seiner Frau Paula Winkler die Chassidischen Geschichten herausgibt: Erzählungen jüdischer Frömmigkeit und Weisheit. Mit Franz Rosenzweig übersetzt er die hebräische Bibel ins Deutsche. Entscheidend ist sein Buch „Ich und Du“ von 1923, eine Religionsphilosophie der Begegnung – bis heute bedeutsam. Es gibt unter uns einen Umgang mit Menschen, der diese vergegenständlicht und wie Sachen behandelt. Diesen Blick nennt Buber „Ich – Es“. Dagegen der ganz andere Blick auf Menschen, für den Buber zeitlebens wirbt: „Ich und Du“. Den anderen, jeden anderen, als ein „Du“ betrachten – in Ehrfurcht. Das ist jene achtsame Beziehung, wenn wir das Anderssein unseres Gegenübers würdigen, aushalten, annehmen. Nötig ist dazu das Wort - und der Zwischenraum, das Interesse füreinander. Buber formuliert: „Erst wenn ich die Andersheit meines Gegenübers wahrnehme und darauf ehrlich verzichte, ihn in irgendeiner Weise mir einzuverleiben, ihn einzuverseelen, ihn auf meine Wege festzulegen, wird er mir wahrhaft zum Du. Das gilt für jede Beziehung zu Gott wie zu den Menschen.“
Dieser Martin Buber war tief in seinem jüdischen Volk und in der Liebe zu seiner Religion, dem Judentum, verankert – in einer Tiefe, die wohl wenige nur erreichen. Umso paradoxer ist es, dass er bis zuletzt in Israel höchst umstritten und in vieler Hinsicht isoliert war. Weltweit war er als geistiger und geistlicher Lehrer über viele Religionsgrenzen hinweg anerkannt. Lebenslang hatte er sich dagegen gewehrt, Religion als einen Sonderbezirk im Leben auszugrenzen. Für ihn gab es den Unterschied von profan und sakral nicht. Dadurch war er z.B. für orthodoxe Juden ein ketzerischer Glaubenszeuge.
Schon Anfang der 1920er Jahre, nach dem ersten Weltkrieg, hatte sich Buber in der zionistischen Bewegung dafür stark gemacht, das Gespräch mit den Arabern zu suchen. Deshalb kam es nach der Staatsgründung Israels 1949 zum heftigen Streit zwischen ihm und dem damaligen Staatsgründer und Premierminister Ben Gurion. Dieser wollte einen starken Staat Israel – in harter Abgrenzung zu den Arabern und Palästinensern. Buber hielt dies für falsch und brandgefährlich. Entschieden suchte er das Gespräch mit den sogenannten „arabischen Feinden“. Er hatte eine Völkerföderation von Jüdinnen und Juden und Araber*innen im Blick. Diese geistige Weite, dieser Universalismus machte ihn für viele Landsleute höchst verdächtig.
Er liebte die Propheten des alten Israel. Wie diese war er ein Mensch, der die Stimme Gottes suchte und auf sie alleine hören wollte. Das gab ihm diese unglaubliche Freiheit zum aufrechten Gang, diesen Mut zum Einspruch, dieses geistige Stehvermögen.
Entscheidend ist für ihn gewesen „der Glaube, dass der Mensch schließlich mit seinem ganzen Wesen das Wort sprechen soll, das dem Wort Gottes antwortet“. Und Gottes Wort ist für ihn immer konkret. Es ist in der Heiligen Schrift hörbar; es kommt uns in den Zeichen der Zeit entgegen, in dem, was Buber „Wirklichkeit“ nannte. Der Mut zum Sondieren, was hier und jetzt zu tun ist, hat immer einen Preis. Wie die Propheten weiß auch Buber viel von den Leidensgeschichten Israels, von den Leidensgeschichten der Menschen, von der Leidensgeschichte Gottes. In einem Theaterstück lässt er durch den Mund des Propheten den lebendigen verborgenen Gott selbst sagen: „Ich nahm die Welt auf mich, als ich sie schuf. Ich nahm auf mich, mit ihr zu leiden. Die tief leiden, teilhaftig bin ich ihres Leids, dass sie sich mir nähern können. Durch den Schacht des Leidens zieht die Welt in meinen Schoß.“
Dieser Glaube an das Mit-Leiden Gottes ist der tiefste Grund für Bubers Bereitschaft, ein Leben lang dem Frieden zu dienen und Gerechtigkeit zu fördern und Barmherzigkeit zu leben, wo es nur geht. Das hat nichts von Passivität oder einem Suchen nach faulem Frieden; das ist ein durchaus konfliktfähiger und kämpferischer Ansatz: „Ich bin kein Pazifist; denn ich weiß überhaupt nicht, ob ich in einer bestimmten Situation, in der Kampf notwendig geworden ist, nicht kämpfen würde. Natürlich bin ich von ganzem Herzen für Frieden, aber nicht für den gewöhnlichen Frieden, der nur in verschleierter Form den Krieg fortsetzt und vorbereitet.“ So wie die alten Propheten sich mit den Königen anlegten, so stellte sich Buber allen Verhaltensweisen gegenüber quer, welche die eigene Position absolut setzen – etwa in Gestalt eines politischen Messianismus oder eines nationalistischen Egoismus. Bubers Dialogkonzept gründet in seiner Suche nach einem „weisen Herzen“. Es ist aktuell bis heute. In jedem Dialog soll und kann neu ein Fenster aufgehen, so seine stete Erinnerung. Dialog darf deshalb niemals aufgegeben werden – und damit auch die Suche nach Frieden und Gerechtigkeit.
Erinnerungen auf dem Weg der Erneuerung - Anonymus aus Magdeburg
Ein Flugblatt mit diesem Text wurde im November 1989 auf einem Parkplatz auf der Autobahn Hannover – Berlin gefunden.
Laß dich nicht wieder von Angst
gefangen nehmen,
sondern bleib bei der hilfreichen Wahrheit.
Trau anderen Veränderung zu,
und mißtraue denen nicht,
die sich ehrlich andern wollen,
denn auch dazu gehört Mut.
Suche deinen eigenen konkreten Beitrag
und verfolge ihn beharrlich.
Du mußt dich auch selbst bewegen.
Enthalte dich der Gewalt der Faust,
der Zunge und des Herzens.
Nicht gegeneinander, sondern nur miteinander
läßt sich etwas verändern.
Suche nach Verbündeten vor allem bei denen,
die scheinbar auf der anderen Seite stehen.
Hab Geduld, denn der Weg wird lang sein.
Aber sei ungeduldig gegenüber denen,
die sich nicht bewegen wollen.
Nimm wahr, was sich verändert.
Bring ans Licht, wo sich nichts verändert.
Dulde keinen Stillstand.
Lös die Aufgaben von heute.
Denk nach über die Ziele von morgen.
Aber verschiebe nichts auf übermorgen.